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Der Baum
steht auf einer Wiese. Die Wiese fällt zu einem kleinen Tal hin ab, in dem ein Bach seinen Weg gefunden hat. Hinter dem Bach steigt das Gelände wieder an und gleich dahinter fängt ein Tannenwald an, der durch den letzten großen Sturm gelitten hat. Hinter dem Waldstück erhebt sich ein bewaldeter Hügel.
Der Baum ist etwas Besonderes. Dicke Wurzeln dienen dazu ihn im Boden zu verankern. Er hat schon vielen Stürmen getrotzt. Obwohl er ungeschützt und einsam auf der großen Wiese steht.
Der Baum hat etwas Menschliches. Wenn die Eifelnebel vom Wind über die Wiese getrieben werden, steht er da, wie ein vergessener Wanderer. Nebelfetzen zeigen seine unheimlichen Ansichten.
Unheimlich für den Fremden. Einheimische wissen, was es mit dem Baum auf sich hat.
Der Baum trägt ein dichtes Gewirr kräftiger und dünner Äste. Er trägt sie, wie einen Haarschopf.
Etwa einen Meter über den Boden hat er eine Ausbuchtung. Als wenn er seinen zahnlosen Mund geöffnet hätte. Als wolle er etwas sagen. Oder fehlen nur die Zähne, dass es bedrohlicher aussehen würde? Ein zahnloser Tiger?
Der Baum hat über die Ausbuchtung, die so etwas wie einen Mund darstellt, zwei Verdickungen, die sind in Größe und Abstand genau richtig, um an zwei Augen zu erinnern.
Der Baum ist für die Einheimischen eine Warnung!
Niemals würden sie sich bei Gewitter in seiner Nähe aufhalten. Das könnte tödlich sein. Nicht weit vom Baum entfernt stehen zwei Kreuze, die an Blitzopfer vergangener Tage erinnern. Einheimische meiden die Nähe des Baumes!
Der Baum war also der richtige Bewacher der heimlichen Grabstätten.
Aus dem Alten, der seine Frau, auf dem am Dorfende stehenden Bauernhof, in einem Seitenkeller vergraben hatte, war ein Geschichtchen, dann eine Geschichte in Nesseltaus Buch geworden.
Eine ganz frische Geschichte, die Nessetlau nicht ignorieren konnte. Sie hatte das Wissen. Sie wohnte zu dicht an dem Entstehungsort des Geschichtchens!
Der Baum stand unberührt da. Hätte er tatsächlich Augen, einen Mund und eine Sprache und man hätte ihn fragen können, so hätte er wohl sein Wissen schon bald bekannt gegeben. Aber er war nur ein Baum, in dessen Nähe ab und an der Blitz einschlug.
Der Baum stand mit den Wurzeln fest verankert im hart gefrorenen Boden im Wintersturm, auch als es vor ein paar Tagen zu tauen begann. Aber der Boden unter den Grabstätten in seiner Nähe wurde von der unterirdischen Wasserader, die die Blitze anzog, weg gespült. So kam es, dass der Baum mit seinen hölzernen Verdickungen, die wie Augen aussahen, auf ein freigelegtes Körperteil blickten, dessen Zustand, vor allem nach dem Besuch der Wildschweine, ich hier besser nicht darlege.
Der fremde Alte, der den Bauernhof vor dem Zerfall gerettet hatte und dessen Verwandtschaft auf mysteriösem Wege kleiner wurde, hatte hier den Idealen Ort für die Verwandtschaft, für deren letzte Ruhestätte gefunden. Er wusste auch, dass die Nähe des Baumes gemieden wurde.
Das aber die Wasserader zu neuer Kraft auflaufen würde, konnte er nicht ahnen. Außerdem kümmerte es ihn jetzt nicht mehr. Er war längst eine gelesene Geschichte in Nesseltaus Buch.
Während sie noch über die Geschehnisse auf dem Bauernhof, die sie aus im Buch gelesen hatte und darüber nachdachte, wie sie darauf aufmerksam machen konnte, war Doc Schneider – Stachelbeere – längst unterwegs. Er liebte es durch die Wälder zu streifen. Er liebte die Natur. Er wollte etwas zu deren Erhaltung unternehmen. Dafür hatte er vor Jahren auch aktiv gekämpft. Seine aktive Zeit als Mitglied von Greenpeace hatte er aber aus Zeitmangel in eine passive Mitgliedschaft geändert. Er war nicht mehr der Jüngste. Doch was er tun konnte, machte er. Niemals würde er akzeptieren, wenn Tiere aus Profitgier leiden mussten oder wenn man unnütz Natur vernichtete.
Er war früh auf den Beinen. Nicht selten, dass er halbe Nächte im Wald herum streifte. Angst in den Wald zu gehen, auch bei Dunkelheit, hatte er nicht. Er kannte die Wildwechsel und einige Jagdreviere der Tiere. Vor Kurzem hatte er eine Wildkatze gesehen. Die meisten Menschen meinten, die wäre in dieser Gegend längst ausgestorben.
Er sprang über den Bach. Die Brücke war vom letzten Hochwasser weggerissen wurden. Der Feldweg verlief zwischen den Wiesen, auf denen im Frühjahr die wilden Narzissen blühten. Er sah den Baum. Es schien ihm, als wenn der Baum rufen würde. Wenn nicht, so hatte er doch den Eindruck, als wenn der Baum ihn näher heran winken würde. Der Wind blies in Böen.
Noch 20 Meter. Doc Schneider sah den Erdrutsch. Und er sah etwas, was er nicht glauben konnte. Es schien ihm, als wenn etwas Menschliches, ein Arm, aus der Mulde ragte... -
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(Ein Auszug!)
© Jörg Segger
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