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Carmen IV
Zeit die vergeht und nur die eigenen Schmerzen spürt man
Carmen IV
Endlich! Es hat viele nervende Jahre gedauert. Jetzt ist es so weit. Wie soll ich mich verhalten? Die Zeit in der Firma war nicht immer einfach. Die letzten Jahre haben eigentlich nur genervt. Eigentlich sagt man nicht, gibt es nicht. Jedenfalls meinte einer dieser Motivatoren das. Komisch, die Firma sorgt dafür, dass die Stimmung immer schlechter wird, jeder nur noch seinen Job macht. Als Ausgleich werden dann Motivatoren angeschafft. Bezahlt, um eine Betriebsstimmung zu heben, die wie die Titanic längst nicht mehr zu heben ist. Überhaupt, Motivatoren. Das Wort endet auf Toren. Es gibt eine Menge Toren in der Wirtschaft.
Man macht seinen Job. Ja, die letzten Jahre waren wirklich nicht leicht. Aber so ist das eben. Was hätte ich tun sollen? Die Zeiten, sich in die Büsche zu schlagen und mit Pfeil und Bogen auf die Jagt zu gehen, um nicht zu verhungern, sind längst vorbei. Ich hatte mal einen Seminarleiter in Bad Münster am Stein, der gab zu, dass er sich häufig teure Sachen oder elektronischen Schnickschnack kaufen würde, um seinen Frust abzubauen.
Gäbe es weniger Frust, würde unsere Wirtschaft wohl nicht funktionieren. Der Wohlstand in Europa scheint mir stark auf der Grundlage von Frust erwirtschaftet. Wo bleibt da der Mensch? Gut, die Lebenserwartung ist verdammt hoch hier. Kann es sein, dass manche Menschen nur so alt werden, weil sie darauf warten, dass ihre Lieblingsfeinde schwer krank werden, verarmen oder ihnen anderes Ungemach passiert? Dafür lohnt es sich alt zu werden oder?
Ich versuche mich zu konzentrieren. In Gedanken gehe ich die Verteilerliste meiner gestrigen E-Mail durch. Ja, die Bosse habe ich eingeladen, meine Betriebsfeinde und die guten Kollegen auch. Keinen vergessen! Ich binde mir zur Feier des Tages einen Schlips um. Es gab Jahre, da mochte ich dieses Zeichen der Einordnung oder besser Unterwerfung. Die letzten Jahre nie mehr. Ich trug selten Schlips, selten einen Anzug. In Wirklichkeit bin ich ein Rocker. Ich musste plötzlich lachen und meine Frau schaute ins Bad. „Hast Du Dir selber einen Witz erzählt?“ Ohne auf die Antwort zu warten ist sie wieder verschwunden. Sie muss sich auch noch anziehen.
Heute ist der große Tag des Abschieds von der Firma, den guten und den schlechten Kollegen. Ich sehe die Arschlöscher hoffentlich zum letzten Mal. Die guten Kollegen und die netten Kolleginnen werde ich natürlich ab und an mal wieder sehen. Die anderen nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Zum Beispiel, wenn man mich an den Laternenpfahl fesseln würde, wo dieser, dieser (ich verdränge den Namen), na ja der Blödian da, immer sein Auto parkt!
Das ist eher unwahrscheinlich. Feinde habe ich natürlich auch. Die habe ich auch eingeladen. Sollen die doch sehen, ich habe fertig. Letzter Tag in der Firma. Dann bin ich Rentner. All die schöne Zeit, die vor mir liegt. Ich weiß genau, was ich machen werde.
Na ja, zuerst noch diesen Tag überstehen. In gerader Haltung und freundlich, nett sein. Nicht ausflippen. Klar, ich könnte AC/DC auflegen, wenn der Abteilungsdirektor seine Ansprache halten will und dazu tanzen. Und Bier trinken und Whisky. Aber das würde dann bald hässlich enden. Ach was, soweit habe ich mich doch immer im Griff gehabt. Man diszipliniert sich fürs Überleben.
Am anderen Morgen.
Ich öffne mein Tagebuch. Und schreibe die wichtigsten Erlebnisse in Kurzform auf. Es war eine schöne Feier. Ich war gut in Form und habe Paul, der all die Jahre alle meine Äußerungen zum Chef getragen hat, nicht ohne sie für sich günstig zu verdrehen, verziehen. Nein, das habe ich ihm nicht gesagt. Aber ich habe vorher den Chef einen Wink gegeben. Man liebt den Verrat, aber nicht den Verräter. Das habe ich irgendwo gelesen. Ja, ich träume. Ich werde jetzt endlich wieder mehr lesen.
Zurück zu Paul. Paul hat alle meine Verbesserungsvorschläge, von denen ich ihm erzählt habe, zu unserem Chef getragen und als seine verkauft. Klar wusste ich das. So kann man auch Einfluss nehmen. Paul ist hinterhältig und wäre er eine Frau, würde er eine gute Vorlage für die Hexe Babajaga, aus einem russischen Märchen abgeben.
Der Chef hat mich in seiner Rede zum ersten Mal überhaupt gelobt. Ist nicht wirklich angekommen bei mir. Ich meine seine Rede. Wir haben ihn längst durchschaut. Er braucht uns. Was wäre Cäsar ohne seine alten Kämpfer gewesen, die für ihn starben? Generäle gibt es viele und noch mehr, die sich dafür halten. Nicht jeder hat eine schlagkräftige Armee.
Meine Frau machte eine tolle Figur. Sie sieht wirklich noch klasse aus. Für ihr Alter. Top Figur, gepflegt und witzig. Dieser Witz, den ich besonders an ihr mag. Ihr Geist ist frisch, wie am ersten Tag, als wir uns zum ersten Mal trafen. Eher scheint mir, dass die Lebenserfahrung mit ihrem Verstand, wie ein Schleifstein mit dem Messer umgegangen ist. Ich brauche keine neue Frau. Die Gebrauchsspuren vom Leben machen sie nur interessanter.
Die geilen Laffen aus der Nachbarabteilung flirteten mit ihr. Wenn sie nur einen Teil der Meinung gehört hätten, die meine Frau sich über sie gebildet hat, dann würden sie im Boden versinken. Aber die Einbildung ist manchmal stärker als fremde Meinung.
Ich schlage mein Tagebuch zu. Lange hatte ich nichts eingetragen. Es war, als wenn ich damit auf diesen Tag nach dem Abschied aus dem Berufsleben warten wollte.
Zweiter Tag nach dem Ausscheiden aus der Firma.
Ich musste in den Keller. Es war wie ein lange unterdrücktes Verlangen. Endlich konnte ich in Ruhe das Durcheinander, welches sich im Laufe der Jahre dort gebildet hatte, versuchen zu beseitigen. Es muss ja nicht gleich alles bis in die letzte Ecke aufgeräumt werden. Ich habe Zeit.
Zuerst dachte ich, alles ab in den Container. Aber als ich das Diktiergerät in der Hand hielt, wurde ich plötzlich neugierig. Ein paar dieser kleinen Magnetbänder hatte ich gestern schon weg geworfen. Was soll ich all den Kram aufheben? Ich hatte das Diktiergerät gerne benutzt. Es bot sich an. Mit einer Hand war es zu bedienen. Wenn mir beim Autofahren ein guter Gedanke kam, habe ich ihn in das Gerät gesprochen. Beim Joggen ging das auch. Nur keine der guten Gedanken verlieren. Festhalten für irgendwann einmal. Jetzt war irgendwann. Ich drückte auf Wiedergabe.
Komisch, die Batterien waren noch nicht leer und eine bekannte Stimme sprach zu mir. Es war nicht meine. „... werde ich nicht mehr sein!“, sprach das Diktiergerät. Ich spulte zurück.
„Guten Tag Gunter! Wenn du dieses Band abhörst, werde ich nicht mehr sein!“
Ich spulte wieder zurück und hörte gespannt hin.
„Die letzten Monate waren schrecklich. So etwas wünscht man nicht einmal ...“
Ich schaltete das Gerät aus und hörte die Stille im Keller. Meine Frau war einkaufen. Wem gehört diese Stimme? Ich wusste es.
Zuerst einmal lief ich nach oben. Ich hatte die Bänder in den Container geworfen. Der Müllwagen war schon zu hören. Es dauerte eine Zeit, bis ich die Kollegen von der Abfallentsorgung überredet hatte. Dann wühlte ich in meinem Container herum. Sie schüttelten den Kopf und grinsten sich an.
Dann hatte ich den kleine Plastikbeutel mit den Magnetbändern des Diktiergerätes in der Hand.
Ich war aufgeregt. Die Hände flatterten und ich beeilte mich in den Keller zu kommen. Irgendwo hatte ich noch die passenden Batterien für das Diktiergerät liegen. Die würde ich brauchen.
Ich schaute auf die Kassetten. Alle waren durchnummeriert. Die letzte lag im Gerät.
Ich konnte mich nicht entschließen. Es hatte einige endlose Minuten gedauert, bevor ich nach oben ging. Sollte ich all den alten Kram wieder ans Tageslicht holen? Vielleicht doch die Kassetten abhören? Wem nützen diese Kassetten jetzt noch? Ich wusste es nicht. Da ich, wohl altersbedingt, nicht mehr so entschlussfreudig war, legte ich die Kassetten, Batterien und das Diktiergerät in einen Pappkarton und schob ihn in die Ecke zu all den anderen Sachen, die ich noch aussortieren wollte. Dann ging ich nach oben.
Sollte ich meiner Frau sagen, was ich da im Keller gefunden hatte? Es war wohl eher kein Schatz. Sie hatte mich so und so schon aufgezogen, sich Lustig gemacht, weil ich erst alle Sachen anschauen wollte, bevor ich sie in den Container warf. In ihren Augen war das nur einfacher Müll. Altes Zeug, dass nicht mehr ins Haus gehörte. Museen bewahren so etwas auf. Das musste reichen. Ihrer Meinung nach hatte ich Talent zum Museumsverwalter.
Sie hatte vorgeschlagen, dass ich ein paar Tage weg fahren sollte und sie das Aufräumen des Kellers übernimmt. Sie würde sich Helfer aus der Verwandtschaft holen. Aber wenn ich daran dachte, dann wurde mir komisch.
Was wäre, wenn Alfons Zeit hätte? Alfons ist einer der merkwürdigsten Onkel, die ich je kennenlernen durfte. Der Wichser der! Alfons war vor Jahren in Afghanistan im Einsatz.
Seit dem hat der eine Macke. Geht manchmal auf das Klo und holt sich... Nun, er könnte wenigstens die Klotür zu machen, wenn er sich so beschäftigt. Wer ihn nicht kennt oder nicht weiß, wie er so drauf ist, kann da schon mal eine unerwünschte Vorführung seiner Männlichkeit bekommen. Der Gedanke, Alfons hilft beim Kelleraufräumen, hält sich in unserem Haus auf, lässt mich selber den Keller in Angriff nehmen.
Ein paar Tage nach der Verabschiedung.
Ich hatte schlecht geschlafen. Ralf sprach zu mir. Er war nicht wirklich da. Ich stand im Keller, weil ich mir ein Bier holen wollte.
Zuerst quietschte ein Kassettengerät, dann hörte ich Ralf sprechen: „Ich bin längst von Würmern zerfressen. Hörst Du mich Gunter? Ich bin nur vorweg gegangen. Du wirst mir folgen. Wie all die anderen auch.“
Ich stand mit dem Bier in der Hand da und lauschte. Das Kassettengerät schwieg. Dann fing meine Frau an zu schnarchen und ich wurde davon wach. Mein Schlafanzug war durchgeschwitzt. Ich ging zur Toilette. Sie folgte mir einige Zeit später schlaftrunken und musste warten bis ich fertig war. Sag mir, ob ihr gemeinsam zur Toilette gehen könnt, und ich sage euch, wie stabil eure Beziehung noch ist.
„Hab schlecht geschlafen“, sagte ich und sie: „Du musst Dich erst daran gewöhnen. Nicht jeder Pensionär findet sich mit der Ruhestellung ab!“
Als ich wieder langsam eindämmerte, schlüpfte sie lautlos neben mich und schmiegte sich an. Ja, ich hatte ihren Körper immer noch gerne nah bei mir. Ihr Haar duftete. Im Schlafzimmer roch es nach verbrauchter Luft und einfachem Leben. Was ist schlecht daran?
Da waren die Brötchen, die irgendwie nach Pappe schmeckten. Ich konnte sie nicht anlügen. Sie kannte mich zu lange. Wir kennen uns ungefähr seit 20 Jahren. Fast 10 Jahre waren ohne Begegnung verstrichen, nachdem wir uns zum ersten Mal gesehen hatten. Nach der Zweitauflage des Kennenlernens sind wir nun fast 10 Jahre verheiratet.
Vorher war sie die Frau eines anderen. Ich bekam kaum mit, was ich beim Frühstück zu mir nahm.
Es zog mich in den Keller. Kaum waren wir mit dem Frühstücken fertig kam diese Neugier.
Ich ging nach unten in den kleinen Raum mit dem Pappkarton. Das Kassettengerät lag da. Was sollte es auch machen. Ich wusste was da auf den Kassetten war. Ralf hat sicher nichts ausgelassen. Seine Beschreibungen würden quälende Einzelheiten enthalten. Jedes Wort eine Lanze in der Brust eines Freundes.
Oh ja, ich kannte Ralf gut. Sehr gut. Wir waren Nachbarskinder. Er war ein Jahr älter und hatte irgendwann mal meiner Schwester mit einem Stock eine Platzwunde an der Stirn verpasst.
Dafür habe ich ihn K.O. Geschlagen. Meine Überlegenheit war damit besiegelt und wir wurden Freunde. Ich war der Anführer. Wir spielten viel zusammen, machten Unsinn und verloren uns nie aus den Augen.
„Guten Tag Gunter. Du wirst es mir nicht glauben, ich habe mich von meiner großen Liebe getrennt. Die Gründe liegen auf der Hand.“
Die Kassette spulte, es war nichts zu hören. Dann ein Knacken und Ralf sprach weiter. Es schien, als wenn er sich die Nase geputzt hatte.
„Ja, Gunter? So ist das, du arbeitest und liebst und liebst und arbeitest und dann sticht es plötzlich in der Brust! Der Arzt ist gewissenhaft und irgendwann sagt er dir, du hättest Krebs. Zu spät gekommen. Keine Chance mehr!“
Ich schaltete das Gerät aus und war jetzt in Gedanken auf dem Friedhof. Ich war zu seiner Beerdigung erschienen. Das war ungefähr 10 Jahre her. Komisch, wir hatte 20 Jahre lang nur 10 Kilometer getrennt in zwei Orten gewohnt und waren uns nie begegnet. Davor waren wir oft viel weiter auseinander und hatten uns nie aus den Augen verloren. Irgendetwas war es, was mich daran hinderte den Kontakt mit ihm aufrecht zu halten. Ich mochte ihn plötzlich nicht mehr sehen. Als ich von seinem Tod erfuhr, wühlte es in meinen Gedanken. Zur Totenfeier waren außer mir nur seine Schwester und seine Mutter erschienen.
Mein Daumen drückte automatisch auf den Wiedergabeknopf. „Du darfst nicht schummeln Gunter. Nimm die erste Kassette!“
Er kannte mich gut. Unangenehme Sachen waren nichts für mich.
Ich legte Kassette eins ein. „Guten Tag Gunter. Immer schön der Reihe nach. Ich habe meine Frau weg geschickt. Sie soll nicht sehen, wie ich jämmerlich zu Grunde gehe. Ich wusste es, als ich zum ersten Mal meinen merkwürdigen Atem roch. So roch mein Vater auch. Du erinnerst Dich? Du hörtest immer zu, wenn ich von seinem Siechtum berichtete. Du warst ein richtiger Freund. So eine Freundschaft bleibt! Ich werde wie er enden! Auf der Rechnung für unsere Leben steht unterm Summenstrich: Tod!“ Es spulte aber es war keine Wort zu hören. Plötzlich ein Lachen und danach: „Wer es zu gut im Leben hatte, hat die höchste Rechnung, kann sich am schlechtesten aus dieser Welt verabschieden. Deshalb wurde der Himmel, die Hoffnung auf ein Weiterleben erfunden. Unerträglich wäre es, wenn es nicht doch irgendwie weiter ginge. Weist du warum ich all die Kassetten besprochen habe?“
Ich schaltete das Gerät aus, weil ich die Frage selbst beantworten wollte. Ich hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Meine Frau stand kurz darauf auf der Kellertreppe: „Gunter? Bist du da unten?“
Ich zögerte und rief nach oben: „Ja Schatz. War Dein Tag gut?“
„Na ja, das Übliche. Ich will Dich nicht damit langweilen!“
Ich wusste, dass sie darauf wartete, dass ich nachfragen würde. Sie musste ihren Frust loswerden und erwartete, dass ich zuhören würde. Heute war es aber anders. Ich ging nicht auf ihr Spiel ein. Nach einer Pause fragte sie: „Was machst Du?“
„Aufräumen!“ Die kurze Antwort bewirkte, dass sie von der Kellertreppe verschwand. Dabei brummelte sie etwas wie: „Ich gehe Duschen!“
Da stand ich nun. Das Diktiergerät hatte ich in der Hand. Keine Ahnung, wie Ralf es in seine Hände bekommen hatte, um wochenlang Kassetten mit den Erlebnissen seiner letzten Lebenstage zu besprechen. Wie kamen all diese Kassetten in meinen Keller?
„Weißt du jetzt warum ich die Kassetten voll gequatscht haben. Mit Geschichten aus dem Leben eines Elenden? Wenn nicht, wirst du es bald wissen. Ich weiß, du wirst alle Kassetten anhören. Du wirst mein Siechtum mit erleben. Festgehalten auf den Magnetbändern. Ich spekuliere darauf, dass du wieder mit dem Schreiben anfängst und daraus ein Buch machst. Einen Roman. Nenne ihn meinetwegen 'Leben und Sterben eines Freundes'. Was meinst du? So lebe ich jedes mal, wenn jemand dein Buch liest weiter. Immer die gleich Geschichte. Meine Geschichte.
Erinnerst du dich an Lola?
Pause. Ich drückte die Pausetaste. Meine Frau rief mich zum Mittag. Der Keller sah immer noch so chaotisch aus, wie vor Tagen. Nichts aufgeräumt.
„Du hast dich verändert Schatz!“, sprach sie, als sie mir den Teller hin stellte. Ich hatte keinen Hunger. Aber ich kostete und lobte sie für ihre Kochkunst. Sie konnte nichts dafür, dass ich so durcheinander war. Durchgeflügt wie ein Rübenacker im Spätherbst.
„Du bist wo anders mit deinen Gedanken!“ hatte sie richtig erkannt. Ihre Frage, ob ich etwas im Keller geschafft hätte, beantwortet ich positiv. Wie konnte ich einfach so mit ihr über Ralf sprechen? Wir gingen abends in ein Konzert. Die Musik von Händel entführte uns beide weit vom Alltag weg. Es folgte eine schöne Nacht in der wir uns mehrmals liebten. Sie fühlte sich an, wie der Frühling und ließ sich in aller Frische gehen. Frei tanzten wir den Frühlingswalzer auf saftiger Wiese.
Ich hörte sie, als sie morgens im Bad war und spürte den Hauch ihres Kusses, mit dem sie sich für die Arbeit verabschiedete. Kaum konnte ich es erwarten, dass sie die Tür endlich geschlossen hatte und zur Arbeit fuhr.
Im Schlafanzug saß ich bald vor dem Computer und hämmerte wild auf der Tastatur herum. Aber es gelang nicht. Ich konnte nicht schreiben. Nur unpassende Wörter standen da. Kein richtiger Anfang. Die Datei verwarf ich und ging wieder in den Keller.
Kassette vier.
„Gunter erinnerst du dich an Lola? Lola aus Druxheim? Die geile Kleine, die immer die Lehrer mit ihren kurzen Röcken und den zu engen Pullovern verrückt gemacht hat? Ich war mit ihr auf der Autobahnbrücke. Wie du später auch. Und ich war auch mit ihr im Kornfeld. Ich glaube es war ein Gerstenfeld und die Grannen pieckten. Wir alberten herum bevor wir uns liebten. Als wir lange neben einander lagen, stand plötzlich ein Reh neben Lola. Wir waren ganz leise. Als Lola dann lachen musste, sprang es fort.“
Ich schaltete die Kassette ab und dachte an Lola.
Bevor ich zu einem neuen Versuch an den Computer gehen wollte, musste ich etwas aufräumen. Meine Frau durfte keinen Verdacht schöpfen. Ich hatte plötzlich ein Geheimnis. Zuerst nahm ich drei Kisten defekter Bücher in Angriff. Die Bücher stammten aus der ersten Ehe. Ich musste an Petra denken. Wie sie so leise eines Nachts gestorben war.
Es dauerte lange, bis ich den Inhalt der Kisten anschauen konnte. Noch etwas benommen stürzte ich mich in die Arbeit.
Ich beeilte mich. Die Buchrücken fast aller Bücher war beschädigt, es fehlten Blätter oder Blätter waren beschmiert. Weg damit!
Die Papiertonne war fast voll davon. Ich setzte mich mit einer Kanne Kaffee vor dem PC und schrieb wie im Rausch. Plötzlich roch ich das Parfüm meiner Frau. Wie lange mochte sie mir so zugeschaut haben? Ich war in der Zeit verloren. Zwei Geister drangen auf mich ein, das war zu viel.
Ich flüchtete in die Welt der Worte, in Geschichten. Wir steuern unser Schiff des Lebens. Manchmal treiben Winde oder ein heftiger Sturm das Schiff aber ganz wo anders hin!
„Du schreibst wieder? Was Besonderes?“
„Ach wo, nur Fingerübungen“, log ich.
„Training also? Ich fände das gut!“ Sie ging um zu duschen und hatte ein Lächeln auf den Lippen. Da war sie jetzt froh, der Pensionär hat ein altes Hobby wieder entdeckt. Er wird sein Gleichgewicht wieder finden. Vielleicht hatte sie ja gesehen, dass ich keine großen Fortschritte im Keller gemacht hatte.
Zwei Wochen nach der Verabschiedung.
Ich habe in alle Kassetten rein gehört. Das Leben ist oft schwer. Sterben noch viel schwerer. Ralf ist jämmerlich verreckt!
Ich habe schon 100 Seiten unkorrigierter Lebensgeschichte im Computer. Ralf wusste genau, dass ich wieder mit dem Schreiben anfangen würde. Ich war in seinen Augen ein Sensibelchen, welches im Setzen der Wörter, beim Schreiben halt findet. Schon mit sechzehn Jahren las ich ihm meine Geschichten vor. In denen reflektierte ich meine Sorgen, Misserfolge und über meine Familie und den Schwierigkeiten damit. Er war sehr geduldig. Meine Geschichten waren ja nicht immer logisch, oft holprig und voller Fehler.
Ich hörte wieder in eine Kassette rein.
„Gunter ich habe genau gewusst, was du all die Jahre gemacht hast. Nie habe ich dich aus den Augen verloren. Ich wollte zur Beerdigung deiner Frau kommen. Ich hatte aber Angst, wir werden Feinde. Du hast es mir und ihr nie verziehen. Kann sein, daran ist sie zu Grunde gegangen. Dabei war es einfach nur eine kleiner Seitensprung. Sie war dir sonst immer treu, liebte dich immer. Treu bis in den Tod. Sie hat dir verziehen, dass du ihr nie verziehen hattest. Wir drei waren doch Freunde.
Ich erzähle dir von meiner Frau.“
Ich wischte mir eine Träne oder mehr ab und fand nicht den Schalter, um das Kassettengerät auszustellen. Ich saß da und seine Worte plätscherten aus einer anderen Welt herüber. Er war nur noch Konserve. Wir leben aber so in den anderen Menschen, deren Gedanken weiter, wenn wir an sie denken. Irgendwann verlieren sich unsere Spuren, wenn sich die Spuren unserer Nachfahren verloren haben und so weiter.
„Die Frau, die ich jetzt verlassen habe, um ohne Mitleid und für mich allein zu enden. Es ist bald soweit. Die Schmerzmittel wirken zwar noch … Ich wollte ihr nicht meine langsame Verwesung zumuten.
Ich habe sie angelogen. Es hat gedauert bis sie mich los lies. Nicht ohne Schmerzen. Ganz vergessen hat sie mich wohl nicht. Jetzt lebe ich einsam meine letzten Tage. Nein, ich will kein Mitleid! Warum habe ich mich denn sonst von ihr getrennt? Nur Frauen, liebende Frauen, können so schwerkranke Menschen in den letzten Tagen begleiten. Das wollte ich nicht!
Ich lebe hier im Haus meiner Mutter. Keiner weiß, wie viele Tage mir noch bleiben. Meine Mutter pflegt mich. Manchmal ist es, als ob ich wieder ihr Kleiner bin. Es ist nicht gut, wenn Kinder vor den Eltern gehen.
Meine Frau. Ich will berichten, wie ich sie kennengelernt habe. Ich glaube sie kannte Dich? Unser altes Spiel Gunter. Deine Frau ist meine Frau! Aber zwischen ihr und dir war ja noch nichts. Also verzeih mir. Sie fand dich zu traurig. Wusste ja nichts von deiner Petra.
Also da saß ich in dieser Wirtschaft. Ich hatte Wein bestellt. Eine junge Frau, eine gutaussehende Kellnerin, schwarzes langes Haar, hellroter Lippenstift und dieses luftig schwingende Sommerkleid waren mir längst aufgefallen, brachte mir den Wein. Sie lächelte als sie das Glas vor mir hinstellte und beugte sich viel zu tief zu mir herunter. Ich sah zwangsweise in ihren Ausschnitt. Unsere Augen trafen sich und wir lächelten uns an. Da schwang Wollust in ihren Blicken und meine wilden Gedanken stellten sich mehr vor, als ich wollte. Sie kokettierte mit mir. Dann traf sich mein hilfesuchende Blick mit dem Blick einer hübschen etwas älteren Frau. Irgendwie schien mein Blick eingefangen zu sein. Sie war die Chefin des Restaurants. Die hübsche Chefin, sie mochte eine ältere Schwester der jungen Kellnerin sein.
Die junge Kellnerin zog lächelnd von Gast zu Gast, um zu bedienen und Bestellungen aufzunehmen. Ich fand sie für mich zu jung. Als sie wieder an meinem Tisch war flaxten wir herum und plötzlich lud sie mich unvermittelt zu einer Party ein. Für den gleichen Abend. Ich ging hin. Nein Gunter, nicht wegen der blutjungen Kellnerin. Ich dachte an den Blick der Chefin. Denn ab und an hatten sich unsere Blicke wieder gefunden. Irgendwie hatte sie im Sommergarten dort draußen, eine Menge zu tun.“
Ich verstand nicht recht, was Ralf mir sagen wollte. Außerdem war es schon spät. Ein paar Sachen fand ich auch an diesem Tag, die ich entsorgen konnte, bevor meine Frau von der Arbeit kommen würde.
Man sah schon, dass ich hier unten aufräumte.
Ein halbes Jahr später.
Fast hätte ich die Kassetten vergessen. Das Buchprojekt hielt ich für gestorben. Da waren zu viele andere Sachen, die sich plötzlich dazwischen geschoben hatten. Irgendwie wollte ich wohl auch die unangenehmen Erinnerungen und die Beschreibung seines Siechtums vergessen.
Ich konnte mich nicht mehr an den Namen der Datei unter der ich den Text des Buches abgelegt hatte erinnern.
Die Zeit verging mit Tennisspielen, Besuchen bei unseren Kindern und denen aus meiner ersten Ehe. Wir besuchten Freunde. Jetzt konnte wenigstens ich meine Zeit selber planen.
Plötzlich sah ich bei meiner Tochter eine Diktiergerät. Ich stierte dieses Gerät an. Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn, Rinnsale voller Schweiß auf meinem Rücken, mein Hemd wurde nass davon. Ich schwitzte.
Meine Frau rief plötzlich, meinen Blick verfolgend: „So eines haben wir doch auch!“
„Was?“ Ich tat verwundert. Würde ich jetzt die Lösung des Rätsels, wie die Kassetten, die Ralf besprochen hatte, in den Keller kamen, endlich präsentiert bekommen?
„Ja. Eines Tages, wir kannten uns erst einige Wochen, da lag es im Briefkasten. In einem Umschlag. Da waren auch Kassetten!“
„Was hast du damit gemacht?“
„Ich wollte es dir sagen. Habe alles aber erst einmal in einer Kiste verpackt. Du weist doch, du wolltest unbedingt den Korridor renovieren und der sah Chaotisch aus. In der Kiste würde nichts weg kommen dachte ich mir.
Ich hatte selber die Kiste in den Keller gestellt. Ich hielt sie für eine der Kisten, in denen aussortierte Sachen aus dem Korridor lagerten. Ich konnte nichts weg schmeißen und stellte alles erst einmal in den Keller.
Dann hatten sich die Kassetten ja wieder angefunden.
Da war die Beerdigung meines besten Freundes Ralf gewesen. Das überschattete alles. Da lag die Karte mit der Todesanzeige im Briefkasten und mir wurde schwindelig, als ich sie las.
Fast hätte ich die Beziehung zu meiner jetzigen Frau abgerochen. Da war diese Traurigkeit. Auch wenn ich ihm aus dem Wege gegangen bin, all die Jahre, war die Freundschaft doch noch da. Da waren meine besten Freunde tot. Meine erste Frau und Ralf. Ich ahnte nicht, was er mir hinterlassen hatte, was da in dem unscheinbaren Karton im Keller lagerte. Ralf war tot.
Ich hatte eine neue Beziehung, die noch lose, zerbrechlich war. Und die Frau lebte ab und an in den Erinnerungen an ihrer gescheiterten Ehe, dessen Ende sie nicht begriff, weil ihr Mann sich trennte ohne für sie ersichtlichen Grund, ohne dass sie je wieder etwas von ihm hörte. Und doch wollte sie mich.
Ich ging allein zur Beerdigung. Ralf hieß auch ihr Exmann. Damals hielt ich es für Zufall. Jetzt kannte ich den Inhalt der Kassetten.
Als wir vom Besuch unserer Tochter zurück waren, ging sie zur Nachbarin Kaffee trinken.
Und nach langer Zeit fand ich mich im Keller wieder.
Es dauerte Minuten, bis ich den Wiedergabeknopf des Diktiergerätes herunter drücken konnte.
„Du wirst nicht glauben Gunter, was das für eine Party war. Da war die Tochter, die einen Mann für ihre Mutter suchte. Die hatte mich eingeladen. Ein Schwachsinn, sie wollte mich testen, ob ich auf so junge Frauen stehe oder mich eher für ihre Mutter interessiere. Sie wollte eine geschickte Kupplerin sein. Ich fand ihre Mutter oder fand sie mich? Die Frauen suchen die Männer aus! Sommernacht, Musik und Wein, das sind geschickte Vermittler Gunter. Es dauerte nicht lange und ich küsste Carmen in der Nacht. Carmen, ein schöner Name, wie ich fand. Es war Sommer!
Die Party war schön aber auch sonderbar.
Da war ihr Onkel Alfons. Der war erst ein paar Wochen aus Afghanistan zurück. Erzählte angetrunken davon, wie sie von den Mudschaheddin gejagt wurden. Ein Afghanistanveteran, der ab und an auf dem Klo verschwand, um sich einen herunter zu holen. Er wollte beobachtet werden.
Ihre hübsche Tochter war da, reizend das Kind. Kind? Sie half Carmen beim Kellnern. Carmen führte das beste Hotel in der Gegend. Sie war Witwe. Eine junge hübsche Witwe.
Wir heirateten bald.“
Es war schwer zu fassen aber ich hatte alles bereits geahnt. Das Kassettengerät schwieg. Ich hatte keine Ahnung, wie lange meine Frau schon zugehört hatte. Wir schwiegen lange. Nicht zu lange!
Ich sagte leise zu ihr und darauf hoffend, die Stimme würde mir nicht versagen: „Komm, Carmen, lass dich drücken!“
Sie zögert nur kurz. Mir schien es, als wenn die Farbe ihres Gesichts sich änderte. In schneller Abfolge, synchron mit ihren Emotionen.
Ich gab ihr einen zarten Kuss, drückte sie fest und sie fragte leise: „Ralf war dein Freund?“
„Ja! Du warst seine große Liebe. Er wollte, dass du ihn gut in Erinnerung behältst. Schlimm waren seine letzten Wochen und Tage!“
Sie drückte mich. Lange standen wir im Keller. Wir hielten uns in den Armen und wussten nicht, was wir machen sollten.
Jeder hatte sein Gedankengewitter. Wir zitterten.
Alle Fragen der letzten Jahre hatten Antworten bekommen.
Carmen und ich gingen spät nach oben. Wir tranken schweren Wein und hörten die Kassetten. Es kaum der Morgen.
Den ganzen Tag verschliefen wir taub und wie zerschlagen.
Irgendwann würde ich Ralfs Geschichte niederschreiben. Das wussten wir.
JSEGG 06.08.2011
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