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Uhrzeit/ 10:41:40 // Datum/ 2024:Mar:29 / letzte Änderung



 Jonathan

Immer wieder flog er an. Ich schaute nach oben. Er stieg hoch und zeigte mir dabei die Läufe mit den Krallen.

An der rechten Schwinge stand eine Feder etwas heraus. Im Flug schaute er nach hinten. Er sah in meine Augen. Vor ein paar Wochen war ich noch etwas ängstlich. Zuerst hatte ich nur einen leichten Windhauch verspürt.
Erst als der Greifvogel, etwa einen Meter über und seitlich von mir in die Luft stieg und dabei laut rief, hatte ich ihn gesehen. Auch damals drehte er sich mit dem Kopf zu mir. Es schien, als sehe er mir in die Augen. Er stieg hoch, flatterte etwas, drehte um und stürzte sich erneut aus etwa zehn Meter Höhe in meine Richtung. Dabei peilte er meinen Kopf an. Kurz vor mir, zog er hoch, flog in den Park und setzte sich auf eines Baumes Ast. Dort sortierte er die Flügel, dann die Läufe, bis er schließlich in meiner Richtung schrie, um sich gleich darauf wieder auf mich zu stürzen. Die Anflüge wiederholen sich vier bis fünf mal. Immer wenn ich am Schlosspark vorbei lief, passiert das. Seit Wochen ging das schon so. Ich hatte bei unseren letzten Begegnungen meinen rechten Am ausgestreckt, die Hand hingehalten und lachend gerufen, er solle sich doch auf meiner Hand setzen. Das wollte ich natürlich nicht wirklich. Immerhin hat so ein Bussard ziemlich scharfe Krallen. Und dann noch dieser Raubtierblick und seine Bewaffnung, zusätzlich auch noch mit einem scharfem Schnabel!

Doch dann kam alles völlig überraschend für mich. Ich lief mal wieder am Schlosspark vorbei. An den Greifvogel dachte ich ganz und gar nicht! Ich dachte eher daran, wie langsam ich an diesem Tag war. Also würde ich erst ziemlich spät zu Hause ankommen. Ich freute mich auf die Dusche, das Obst nach dem Lauf und auch auf das alkoholfreie Weizenbier. Der Lufthauch kam völlig überraschend! Anders als sonst. Diesmal kam mir Jonathan, wie ich den Raubvogel benannt hatte, so dicht an meinem Kopf vorbei, dass er mich mit seiner rechten Schwinge berührte. Auch diesmal stieg er dann wieder steil nach oben, schaute sich um, flog einen kurzen Bogen und stürzte wieder, aus etwa zehn Metern Höhe, herab. Doch diesmal war alles anders! Er schaute mir so eindringlich in die Augen, das ich gleichsam gezwungen in die Knie ging. Ich sage euch: Er hätte mich mit seinem Raubvogelschnabel erwischt! Ich stürzte. Ich stürzte, weil der Tiefflug so überraschend kam und ich mitten im Lauf in die Hocke gehen musste! Zuerst konnte ich mich, mit den beiden Händen noch abstützen. Ich kroch mehr nach vorne. Bis die Laufenergie aufgebraucht war. Dann lag ich, so lang ich war, auf dem Boden. Den Raubvogel, sah ich nicht, als ich in den Park blickte, wo Jonathan immer hinein flog, um sich auf einen Ast zu setzen und dann laut seinen Angriff zu feiern.

Er saß nicht auf einem Ast! Nein, er hatte bereits im Flug höher steigend, gewendet und schaute erneut in meine Augen.
Er peilte mich an.
Unheimlich schnell kam er näher.
Ich sah die Umwelt sich in seinen Augen spiegeln. Lautlos stürzte er auf mich zu. Direkt vor meinem Kopf breitete er seine Flügel aus. Die Krallen breit gespreizt, setzte er zur Landung an. Ich sah die messerscharfen Krallen. Ich sah diese sich längst in meinen Rücken, schlimmer noch, in meine Kopfhaut bohren.
Würde er den scharfen Schnabel einsetzen?
Könnte ich nicht doch entkommen?

Ich lag da. Meine Augen so weit aufgerissen, dass ich befürchten müsste, diese nie mehr in ihre Höhlen einsetzen zu können. Und ich sah Jonathan direkt in die Augen. Mein Hals hatte sich jetzt verrenkt. Ich war wie gelähmt. Ich konnte nicht weg. Ich konnte mich aber auch nicht abwenden.
Der Raubvogel flatterte. Dann setzte er beide Läufe mit den scharfen Krallen auf meinen Rücken. Schon wollte ich laut aufschreien.
Es war niemand in der Nähe.
Doch dann zog Jonathan seine Krallen ein und setzte sanft auf meinen Rücken auf. Ich lag da, blickte, mit verdrehtem Hals zu dem Raubvogel auf meinem Rücken, der mich einfach nur streng ansah. Sollte ich aufstehen? Ich drehte meinen Kopf langsam in die Normalstellung.
Der Vogel saß immer noch auf meinem Rücken. Plötzlich flatterte er und grub die Krallen in meine Rückenfleisch. Da ich mich bewegt hatte, wollte er sich wohl nur festhalten. Ich hielt erst einmal still. Ein lauter Schrei aus seinem Schnabel ertönte.
Ob er sich über mich lustig machte?

Ein erwachsenen Mensch auf allen Vieren mit einem Raubvogel auf dem Rücken - lächerlich! Ich spürte, wie Blut aus den Wunden, die er mir mit den Krallen gesetzt hatte, sickerte. Trotzdem, so auf dem Boden konnte ich ja nun gar nichts machen.
Ich musste aufstehen. Also versuchte ich es wieder.
Ich drückte mich vorsichtig mit den Händen abstützend nach oben. Diesmal war ich umsichtig. Ich sorgte dafür, dass der Vogel Zeit hatte, auf meine Bewegungen zu reagieren, um eben nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Es klappte. Nach gefühlter Ewigkeit stand ich aufrecht. Oben auf der linken Schulter saß Jonathan der Greifvogel.
Und nun?
Was sollte ich machen?
Ich hielt vorsichtig meinen rechten Arm an gebeugt nach vorn und ballte dabei die rechte Hand zur Faust.

Plötzlich hüpfte der Greifvogel, als wäre es das Normalste der Welt, auf die Faust meiner rechten Hand. Ich stand da und konnte kaum atmen. Er sah mir so tief in die Augen, dass es mir erschien, als sehe ich weit in die Vergangenheit und Zukunft zugleich. Wir sahen uns an. Dann ging ich ein paar Schritte. Der Vogel glich die Bewegungen, die sein Gleichgewicht störten, gekonnte aus. Eine der Krallen hatte sich aber in meine Faust eingegraben. Ich wagte nicht mich davon zu befreien. Ich überlegte krampfhaft! Wie machten es die Leute, die professionell mit Greifvögeln umgehen. Ich sah den Vogel an. Dann hob ich langsam die Faust auf die Jonathan saß und bewegte ihn zum Abflug.

Der Raubvogel startete tatsächlich.
Ich war erleichtert.
Er drehte, nicht allzu hoch, eine Runde in der Luft, drehte, flog zu mir, stürzte im Tiefflug an meiner Schulter vorbei, um dann wieder Höhe zu gewinnen. Er kurvte mindestens noch drei mal um mich herum. Dann flog er in den Schlosspark. Von dort konnte ich ihn schreien hören.

Ich sah das Blut an meiner Faust, spürte den blutigen Rücken und lief nach Hause.
Dort half mir meine Frau.
Wir desinfizierten die Wunden. Ich musste alles berichten. Ich spürte, dass sie mir nicht glaubte. Am nächsten Tag lief ich wieder am Schlosspark vorbei. Diesmal hatte ich einen Lederhandschuh an. Ich stellte mich ganz in die Nähe, wo ich den Vogel erwartete. Dann rief ich ihn. Jonathan war aber schon im Anflug begriffen. Er hatte mich schon viel früher gesehen. Ich hob die Hand mit dem Lederhandschuh.

Jonathan kam im Tieflug an.
Er flatterte kurz vor der Hand, setzte sich darauf und schaute mir in die Augen. Als wenn wir uns schon hundert Jahre kennen würden, als wäre es das Normalste der Welt, saß er auf der Hand und schaute. Diesmal hatte ich Fleisch dabei! Er nahm es gierig. Rupfte daran herum uns brauchte nicht lange, dann hatte er es gefressen.
Ich ließ ihn starten.

Er flog hoch, zog einige Runden in meiner Nähe und flog dann zum Schlosspark zurück. Dann rief er, wie zum Abschied, laut in den Wind! Ich hatte den Schlosspark jetzt fest in meine Laufrunde eingebunden. Wir kaufen seit dem extra Fleisch für den Vogel. Im Internet bestellte ich mir einen richtigen Lederhandschuh für solche Gelegenheiten. Nächste Woche will meine Frau mit mir die Strecke laufen.

JS
Juni 2020
Korrektur III



JSEGG 06.08.2011