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Guste und die Hühner
Guste, das war die landläufige Abkürzung für Auguste! Alle im Dorf nannten sie Guste.
Wir fuhren oft mit dem Rad. Die neue Heimat erkundet man am Besten auf dem Fahrrad. Nie waren wir in der alten Heimat so viel mit dem Fahrrad gefahren. Ob das an den wenigen ausgebauten Wegen um Magdeburg herum lag? Wenige zum fahrradbefahren geeignete Wege. Oder hatten wir damals keine Zeit? Das lässt sich nicht so einfach feststellen.
Diesmal kamen wir mit dem Fahrrad an einem Bauernhof vorbei. Bis auf ein Huhn, welches sich in der Ecke herumdrückte, waren alle Hühner eifrig. Sie waren beim Scharren, Gackern, Fressen, oder sie spielten mit dem Hahn. Huhn und Hahn natürlich.
Die Tiere wurden biologisch gehalten. Sie bekamen, wie ein großes schon etwas schäbig aussehendes Schild auf krummen Eisenstelzen verhieß, Futter aus biologischem Anbau.
Nicht nachdenken – biologisch natürlich, bestimmt, sowieso oder so! Ohne Chemie vielleicht? – Egal! –
Der Auslauf war in Maschendraht eingerahmt. Maschendrahtzaun. In etwa zwei Metern Höhe gab es am Zaun nach innen gerichtete Stacheldrahtabweiser. Kein Entkommen für die Hühner!
An einigen Stellen lugte etwas Grün aus der mit Mulden übersäten Freilauffläche. Das Grüne waren von den Hühnern ungeliebte Kräuter. Gab es solche? Na ja, kann auch grüne Hühnerscheiße gewesen sein. Dann eben ein riesiger Haufen Hühnerscheiße.
Im Vorrüberfahren bemerkte ich eine Bewegung des einsamen Huhnes in der Ecke.
Natürlich waren die Hühner unter sich. Sie hatten in Trögen genug Futter. Wenn sie ein Ei weglegen wollten, konnten sie die zahlreichen freistehenden, in schrankartigen Kästen untergebrachten Eiablageplätze benutzen. Aus einigen Eiablageplätzen lugten auch tatsächlich Hühner heraus. Die meisten Kästen schienen aber leer zu sein. Jedenfalls schaute kein Huhn heraus.
Ein schauriger Windzug. Wolkenschatten huschten über die Freilauffläche. Ein krankes Huhn lockte eine riesige Schattengestalt herbei. Die Gestalt glitt direkt aus der weit entfernten Scheunenmauer mit rasender Geschwindigkeit herbei. Dabei wurde die Gestalt kleiner, bis sie die Größe einer Frau annahm, die ich noch immer gut in Erinnerung hatte. Schattenspiele.
Krumm war die Frau und auch sehr zierlich. Sie hatte ein sehr altes Kleid an. Es war sauber und lang. Über dem Kleid trug sie eine fast genau so lange, längsgestreifte Schürze. Dicke, zu schrumpeligen Würsten zusammengerollte Strümpfe, lugten gerade noch unter dem Kleid hervor. Die Füße steckten in Latschen aus Holzsohle mit Lederkappe. Wirre Haarbüschel unbestimmter Farbe konnten nur mühsam von einem Kopftuch gebändigt werden. Unscheinbar waren ihre Sachen. Sie hatte die Tarnfarben alter Frauen aufgelegt. Wir fuhren weiter. Gespräche plätscherten weiter. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu sehen, wie diese krumme Frau sich bückte würde. Ich hörte, inzwischen weit weg, wie sie auf dieses Huhn einredete. Die Stimme war mir vertraut. Es war das gebrochene Deutsch, das die Flüchtlinge nach dem Zusammenbruch aus Ostpreußen mitbrachten. Die alte Dame stammelte auf das Huhn ein. Sie fragte, wie es ihm ginge und was es wohl hätte. Natürlich war sie sich gewiss, dem Huhn helfen zu können.
Sie hatte das Huhn in den Händen. Man musste genau hinsehen gesehen haben, um zu erkennen, woher plötzlich das Ei in ihrer Hand kam.
Sie hatte dünne und helfende Finger.
Guste – das war ihr Name! Man muss, um die Seele dieser Frau begreifen zu können, - Guuuste – sprechen. Unbedingt mit drei „u“!
Die Guste war bekannt im Dorf, weil sie Hühner heilen konnte. Zu der Zeit als sie lebte, waren die Hühner noch einer Behandlung wert!
Es kam auch schon mal vor, dass sich Kinder mit dem noch viel länger gezogenen Namen über sie lustig machten. Aber den Hühnerhaltern galt sie etwas. Damals stellte ein einzelnes Huhn einen Wert dar.
Manchmal brachte sie als Lohn ein Ei mit nach Hause. Damit ergänzte sie die kargen Malzeiten.
Ihr Mann war nicht weniger krumm gewesen als er noch lebte. Wo er war, als sie den Hühnern half, war seine Körperhaltung unwichtig. Maden kümmern sich nicht darum wie die Haltung der Leichen in der Erde zu Lebzeiten war. Er war als kleiner gebeugter Mann gerade durchs Leben gegangen. Bis kurz vor Schluss hatte er, nach Luft pfeifend, versucht im Rauch einer billigen Zigarre, Sauerstoff zu atmen und dabei Schuhe repariert. Wenn er auf der Suche nach einem passenden Stück Leder war, deckte er ab und an einen sanften Luftzug auf, der nach Leder roch. Die Dielen in seiner Werkstatt bestanden aus blank gescheuerten Holz. Dann war irgendwann keine Zeit mehr für Dorfschuster. Er ging fast unbemerkt. Wen kümmerte so ein nutzloser alter Schuster, noch dazu einer, den man nicht aus Ostpreußen gerufen hatte?
Guste dokterte noch ein paar Jahre länger an Hühnern herum. Sie hatte Erfolg. Sie brauchte auch nur das und die kleine Rente. Das Leben war eben so.
Auch für sie war bald keine Verwendung mehr.
Jetzt spukt sie in den Gedanken weniger Menschen herum. Kann sein, dass sie, irgendwo anders, auch noch mit Hühnern zu tun hat. Himmelhühner mit Legebeschwerden?
Das Haus, welches im Dorf an der Ecke stand, ist ohne Spuren verschwunden. Die Schusterwerkzeuge sind in alle Winde verstreut. Manch ein Nachbar hat noch ein Werkzeug in Gebrauch. Oft ist dessen Herkunft unbekannt. Bevor das Haus abgerissen wurde, stürzten Steine von einem der beiden Schornsteine auf den Fußweg. Es fehlten nur Zentimeter und die Steine hätten Personenschaden angerichtet. Bald war das Haus so baufällig, das nur der Abriss blieb. Jetzt stehen da Garagen!
JSEGG//geändert 16.01.2011
© Jörg Segger
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